Quelle: Blätter 1960 Heft 11 (November/Dezember)
zurück Dokumente zum Zeitgeschehen ERKLÄRUNG DER VEREINIGUNG UNABHÄNGIGER SOZIALISTEN ================================================== Am 5./6. November fand in Dortmund der vom "Zentralausschuß aus- getretener und ausgeschlossener Sozialdemokraten" einberufene Kongreß "Rettet den Frieden - verteidigt die Demokratie" statt, an dem 500 Delegierte und Gäste aus allen Teilen der Bundesrepu- blik, ausländische Gäste, darunter drei Labour-Abgeordnete des Unterhauses und Kammerabgeordnete aus den Niederlanden, und zahl- reiche Journalisten teilnahmen. Die Hauptreferate des Kongresses hielten Dr. Gleissberg, Albert Berg, Lothar Schirmacher und Oswald Hüller. In einer ausgedehnten Diskussion nahmen die Delegierten zu den einzelnen Referaten Stellung. Auf dem Kongreß wurde von der überwiegenden Mehrheit der Delegierten die Gründung einer "Vereinigung unabhängiger Sozialisten" beschlossen. Unter den angenommenen Anträgen befand sich einer, in dem die Delegierten festlegten, die Unionspartei, deren Gründung am 29. Oktober in Frankfurt a.M. beschlossen wurde, zu unterstützen. Die Delegierten beschlossen ferner fol- gende Erklärung: Dem deutschen Volk droht tödliche Gefahr. Sie droht ihm von der Politik der Aufrüstung, der atomaren Bewaffnung, der Ablehnung von Verhandlungen über ein friedliches Zusammenleben und eine An- näherung der beiden deutschen Staaten. Sie droht ihm von der Wei- gerung, den Plan einer atomwaffenfreien, ganz Deutschland um- schließenden Zone in Mitteleuropa zu verwirklichen und über einen Friedensvertrag zu verhandeln, der ganz Deutschland aus Militär- pakten und von fremder Besatzung und fremden Stützpunkten be- freien würde. Diese Politik des Rüstens und Nichtverhandelns droht das deutsche Volk in einen selbstmörderischen Bruderkrieg zu treiben und die internationale Lage zu verschärfen, bis ein neuer Weltkrieg nicht mehr abzuwenden ist. Er würde für Deutsch- land den sicheren Untergang und für die Menschheit eine unermeß- liche Katastrophe bedeuten, deren Schrecken die Verbrechen der beiden vorangegangenen Weltkriege noch weit überbieten würde. Und wieder wäre es das deutsche Volk, dem man die Schuld am Ausbruch der Katastrophe zusprechen würde. Die Behauptung, diese angebliche Politik der "Stärke" werde die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführen, hat sich als ebenso falsch erwiesen wie die Behauptung, daß diese Politik der Siche- rung gegen einen vom Osten drohenden Angriff diene. Denn die Er- fahrung der letzten zehn Jahre - seit Bundeskanzler Adenauer im Jahre 1950 der USA das Angebot westdeutscher Divisionen machte - hat mit schmerzlicher Deutlichkeit gezeigt, daß wir der Wieder- vereinigung Deutschlands keinen Schritt näher gekommen sind, ja, daß sich die Teilung Deutschlands verhärtet und der "Kalte Krieg" zwischen den beiden inzwischen für souverän erklärten deutschen Staaten verschärft hat. Auch die Behauptung, die westdeutsche Aufrüstung sei notwendig, um einen militärischen Überfall aus dem Osten zu verhindern, hat sich als unwahr erwiesen. Denn wäre ein solcher Überfall beabsichtigt gewesen, dann wäre er erfolgt, be- vor die Bundeswehr aufgestellt und mit Raketen und Atomwaffen ausgerüstet worden ist. Überdies spricht alles dafür, daß die Länder des Ostens, die sich in einem auf lange Sicht geplanten Aufbauprozeß befinden, an der Erhaltung des Friedens interessiert sind. Es ist ein Trugschluß oder eine Irreführung, den ideologi- schen und politischen Kampf der Kommunisten gegen den westlichen Kapitalismus und den wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Wettkampf, zu dem sie herausfordern, mit militärischer Bedrohung gleichzusetzen. Verantwortliche Wissenschaftler aller Länder, auch Westdeutsch- lands, haben vor den Folgen der atomaren Experimente, der atoma- ren Rüstung und der Katastrophe eines mit Atomwaffen geführten Krieges eindringlich gewarnt. Die einzige Möglichkeit, uns vor diesen Folgen zu sichern, besteht darin, der Kriegsvorbereitung ein Ende zu machen. Nur der meint es ehrlich mit dem deutschen Volk, der ihm sagt: Es gibt keine andere Sicherheit für Deutsch- land als die Verhinderung des Krieges. Die Denkschrift der Bundeswehr-Generale, in der die allgemeine Wehrpflicht, die Ausbildung aller wehrfähigen Bürger "für die vielfältigen Aufgaben der Verteidigung", die Ablehnung der Neu- tralität, das Festhalten am Bündnis mit der NATO und die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gefordert wurden, war eins der vielen alarmierenden Zeichen für die Gefahr, die der demokratischen Ver- fassung der Bundesrepublik und den demokratischen Grundrechten ihrer Bürger durch die zunehmende Unterordnung des gesamten öf- fentlichen Lebens der Bundesrepublik unter die Gebote der Remili- tarisierung und die Gesetze der Aufrüstung erwachsen ist. Erst haben die sogenannten "Blitzgesetze" die Freiheit der politischen Meinungsäußerung und das Recht auf Opposition gegen die offi- zielle westdeutsche Staatspolitik durch Strafandrohung für Verge- hen wie "Staatsgefährdung" und "verfassungsfeindliche Beziehun- gen" erheblich eingeengt. Dann wurden die im Grundgesetz der Bun- desrepublik festgelegten und dort für unveränderlich erklärten Grundrechte um der Einführung der Wehrpflicht willen teils aufge- hoben, teils eingeschränkt. Jetzt droht ein "Notstandsgesetz", das die Bundesregierung ermächtigen soll, die Reste der demokra- tischen und gewerkschaftlichen Freiheiten außer Kraft zu setzen und das Militär gegen die Bevölkerung zu mobilisieren. Hand in Hand mit dieser Entwicklung ging auf wirtschaftlichem Ge- biet die Zusammenballung des Kapitals und der wirtschaftlichen Macht in den nach der kurzen Periode der "Entflechtung" und "Dekartellisierung" in Westdeutschland wieder oder neu erstan- denen Konzernen und Kartellen. Ihre Gewinne und ihre Macht wach- sen im Zeichen der Rüstungswirtschaft und Staatsaufträge ins Gi- gantische, während zu gleicher Zeit als Folge der ebenso kost- spieligen wie unproduktiven Rüstungskonjunktur die Preise der Konsumgüter steigen, die Inflationsanzeichen sich mehren, der Wohnungsbau eingeschränkt wird, die Mieten erhöht werden und die sozialen Leistungen - wie die Dienste der Krankenversicherung - mit Sondergebühren belastet werden sollen. Es wäre Pflicht einer Oppositionspartei in der Bundesrepublik ge- wesen, diese Entwicklung zu bekämpfen und die Massen des Volkes über die Gefahren der Regierungspolitik aufzuklären und ihr im Parlament und außerhalb des Parlaments entschieden entgegenzutre- ten. Die SPD hat diese Pflichten der Oppositionspartei nicht er- füllt. Sie hat nicht nur bei den "Blitzgesetzen" und den Grundge- setzänderungen mitgewirkt, sie hat nicht nur die gleichen "antikommunistischen" Parolen des Kalten Krieges verbreitet wie die Regierungspropaganda, sie hat schließlich auch die Warnungen, die sie selbst einst gegen die Bindung Westdeutschlands an die NATO, gegen die Aufrüstung und die Wehrpflicht geäußert hat, in den Wind geschlagen und sich auf den Boden der NATO und der "Landesverteidigung" gestellt. Sie hat die Vorschläge ihres eige- nen "Deutschlandplans", der die Schaffung gesamtdeutscher Gremien aus beiden deutschen Staaten zur Vorbereitung der Wiedervereini- gung Deutschlands vorsah, für eine Sache der Vergangenheit er- klärt und der Bundesregierung eine gemeinsame Außenpolitik ange- boten. Da sie vor den Grundsätzen der Politik der Rüstung und des Nichtverhandelns kapituliert hat, hat sie auch nicht mehr die Möglichkeit, glaubwürdig und mit Aussicht auf Erfolg gegen die undemokratischen, unsozialen und die Gefahr des Bruderkrieges und des Weltkrieges heraufbeschwörenden Folgen dieser Politik zu op- ponieren. Die Zukunft des deutschen Volkes, der Friede der Welt und das Le- ben der Menschheit sind bedroht, solange diese Politik fortge- setzt wird. Es ist notwendig, ihr ein Ende zu machen, bevor es zu spät ist. Deshalb fordern wir: 1. Die demokratische Verfassung der Bundesrepublik muß wiederher- gestellt werden. Die in den Jahren 1954 und 1956 vorgenommenen Grundgesetzänderungen, die das Grundgesetz einem westlichen Mili- tärpakt unterordnen und zwecks Einführung der Wehrpflicht die im Grundgesetz ausdrücklich für unantastbar erklärten Grundrechte einschränken oder aufheben, müssen rückgängig gemacht werden. 2. Die eingeleitete "Notstandsgesetzgebung" muß entschlossen ab- gewehrt werden. Ihr Inkrafttreten würde das Ende politischer und gewerkschaftlicher Freiheit in der Bundesrepublik, die Legalisie- rung der reaktionären Diktatur nach dem Muster des Hitlerschen Ermächtigungsgesetzes und die Mobilisierung der Polizei und des Militärs zur Unterdrückung der Volksopposition bedeuten. 3. Die Gesetze, die in Abänderung des Strafrechts seit 1951 in Kraft getreten sind und durch Einführung der Begriffe "Staatsgefährdung" und "Verfassungfeindlichkeit" in den Katalog strafbarer Handlungen der Verfolgung der Opposition gegen die Po- litik der Bundesregierung freien Lauf gegeben haben, müssen auf- gehoben werden. 4. Aus Regierung, Verwaltung, Justiz, militärischen und politi- schen Kommandostellen, Lehrkörpern an Schulen und Hochschulen und aus der Publizistik in der Bundesrepublik einschließlich Rundfunk und Fernsehen sollen Personen, die durch ihre Tätigkeit für das Hitlerregime belastet sind, entfernt werden. 5. Die Bundesrepublik soll aus allen Bündnissen ausscheiden, die sich nur auf einen Teil Europas erstrecken, unter der Bedingung, daß auch die DDR aus solchen Bündnissen ausscheidet. 6. Die Bundesrepublik soll ihre Bereitschaft erklären, einer von Atomwaffen freien Zone anzugehören, sofern auch die DDR dieser Zone angehört. 7. Die Bundesrepublik soll alle Vorschläge allgemeiner und tota- ler Abrüstung unterstützen. 8. Nach dem Muster des österreichischen Staatsvertrages von 1955 soll eine Neutralitätsverpflichtung beider deutscher Staaten an- gestrebt werden. 9. Die Bundesrepublik soll sich zur Bildung einer aus Vertretern beider deutscher Staaten zusammengesetzten Kommission zur Beratung eines Friedensvertrages zwischen den ehemals gegen Deutschland verbündeten Staaten und den beiden deutschen Staaten, aus denen Deutschland jetzt besteht, bereit erklären. 10. Die Bundesrepublik soll normale diplomatische Beziehungen mit allen Ländern aufnehmen, die zur Aufnahme solcher Beziehungen be- reit sind. 11. Zu den nicht der NATO angehörenden Ländern sollen politische, gewerkschaftliche, kulturelle und sportliche Kontakte in gleichem Maße wie zu den NATO-Ländern hergestellt werden. 12. Die Bundesrepublik soll der Unterdrückung und Ausbeutung der Völker in den noch bestehenden oder ehemaligen Kolonien keine Un- terstützung gewähren, weder durch direkte oder indirekte militä- rische Mitwirkung noch durch Kapitalbeteiligung an der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Bodenschätze. 13. Die Aufrüstung der Bundesrepublik muß sofort beendet werden. Es dürfen keine weiteren Wehrpflichtigen einberufen und keine weiteren Mittel für militärische Zwecke bereitgestellt werden. Die dadurch eingesparten öffentlichen Mittel sind für den Bau von Wohnungen und Schulen, für Zwecke der Volksgesundheit und der Förderung fortschrittlicher Wissenschaft und Kunst zu verwenden. Mit dem Abbau aller militärischen Einrichtungen ist sofort zu be- ginnen. Hierfür beschlagnahmtes und enteignetes Land ist an die früheren Eigentümer zurückzugeben. Die ausgetretenen und ausgeschlossenen Sozialdemokraten in der "Vereinigung unabhängiger Sozialisten" werden gemeinsam mit allen Sozialisten, die sich zu ihren Zielen bekennen, und darüber hin- aus mit allen Kräften, besonders auch der verantwortungsbewußten und fortschrittlichen Intelligenz, für diese Forderungen eintre- ten und kämpfen. Dortmund, den 6. November 1960. Vereinigung unabhängiger Sozialisten Der Zentralausschuß: Dr. Viktor Agartz, Köln; A. v. Behr, Göttin- gen; Albert Berg, Hamburg; Gerhard Bessau, Baden-Württemberg; Irma Buchholz, Berlin; Karl Eckerlin, Kassel; Hubert Erven, Bay- ern; Albert Fein, München; Dr. Gerhard Gleissberg, Hamburg; Os- wald Hüller, Baden-Württemberg; Walter Koopmann, Hamburg; Günter Muhs, Ahlsdorf: Franz Nitt, Berlin; Lothar Schirmacher, Kassel; Eugen Schwarz, Wedel/Holstein. zurück