Quelle: Blätter 1964 Heft 12 (Dezember)
zurück Dokumente zum Zeitgeschehen SOWJETISCHE STELLUNGNAHME ZUM MLF-PROJEKT ========================================= In einer Erklärung der amtlichen sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom 15. November 1964 heißt es u.a.: Die Pläne zur Schaffung einer multilateralen Atomstreitmacht der NATO in beliebiger Form stellen eine Angelegenheit dar, die durchaus nicht die Mitglieder der nordatlantischen Gruppierung allein angeht. Die Realisierung derartiger Pläne würde unumgäng- lich die europäische Sicherheit als Ganzes, die nationalen Inter- essen aller Staaten Europas, und nicht nur Europas, tangieren. Das Ergebnis wären die Ausdehnung des Atomwettrüstens und eine weitere Ausbreitung der nuklearen Waffen, der Zutritt jener Kräfte zu dieser Waffe, deren ganze Politik auf die Aufrechter- haltung der internationalen Spannungen und auf eine gewaltsame Revision der in der Welt entstandenen Lage berechnet ist. Es wäre Blindheit, nicht zu sehen, daß auf den Annäherungswegen zur Abrü- stung zusätzliche, schwer zu überwindende Hindernisse auftreten würden und daß auch die mühsame Arbeit vieler Länder und Regie- rungen zur Gesundung der internationalen Lage und zur Festigung des Friedens untergraben würde. Deshalb ist die Sowjetregierung entschieden gegen die Pläne zur Schaffung einer multilateralen Atomstreitmacht der NATO. Die Re- gierung der UdSSR tritt konsequent für die friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlichem sozialem System, für Zusam- menarbeit zwischen den Ländern zur friedlichen Regelung ungelö- ster internationaler Probleme, für die Einstellung des Wettrü- stens, für das Verbot und die Vernichtung von Raketen- und nu- klearen Waffen ein. Sie hat bekanntlich den Vorschlag gemacht, ein internationales Abkommen zu treffen, um eine weitere Verbrei- tung der Kernwaffe zu verhüten, ob es durch deren Übergabe in den nationalen Besitz der nicht über Kernwaffen verfügenden Staaten oder auf der Linie militärischer Bündnisse sei. Ein solches Ab- kommen würde den Belangen aller Völker, den Interessen der Festi- gung des Weltfriedens entsprechen... Es ist kein Geheimnis, daß die meisten Staaten deutlich die Pläne zur Schaffung einer multilateralen Atomstreitmacht verurteilen oder mit Besorgnis verfolgen. Sogar innerhalb des nordatlanti- schen Blocks befinden sich die Anhänger solcher Pläne offensicht- lich in der Minderheit. Auf die Verwirklichung dieser Pläne drän- gen faktisch nur die USA und die Bundesrepublik Deutschland, wo- bei sie ihre Absichten als die Absichten der gesamten NATO hin- stellen und die Erweiterung der thermonuklearen militärischen Vorbereitungen als Maßnahmen ausgeben, die zur Verteidigung der NATO getroffen werden... Die Schaffung einer multilateralen Atomflotte der NATO könnte auch nicht um ein Jota das in der Welt bestehende Kräfteverhält- nis verändern, und wenn irgend jemand in Westdeutschland etwas anderes annimmt, so sind diese Berechnungen auf Sand gebaut. Die Gefahren für den Frieden in Europa und in der ganzen Welt beste- hen nur darin, daß über den Mechanismus einer multilateralen NATO-Atomstreitmacht die revanchistischen und militaristischen Kreise Westdeutschlands Zutritt zur Kernwaffe bekämen, die mit dem Besitz der Kernwaffe direkt die Verwirklichung ihrer Pläne zur Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges verknüpfen. Das Kräfteverhältnis würde sich nicht ändern, aber die interna- tionalen Spannungen und die Möglichkeit von Provokationen seitens abenteuerlicher und militaristischer Elemente würden sich vergrö- ßern. Und darin liegt der Kern der Dinge. In der Absicht, ihre Pläne zu rechtfertigen, behaupten die Anhän- ger der Schaffung einer multilateralen Atomstreitmacht, daß sol- che Streitkräfte geradezu ein Mittel zur Verhütung einer weiteren Verbreitung von nuklearen Waffen sein könnten. Derartige Erklä- rungen kommen jedoch der Behauptung gleich, durch die Begrenzung der Kernwaffe könnte deren immer stärkere Verbreitung erzielt werden. Die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an einer multilateralen NATO-Atomstreitmacht erleichtert offenkundig den westdeutschen Militaristen, die nach der Kernwaffe streben, ihre Aufgabe. Für sie ist es eine Sache, auf Biegen und Brechen durch separate Bemühungen eigene Raketen- und nukleare Streitkräfte zu schaffen, und eine andere Sache, Zutritt zur vervollkommneten Ra- keten- und Kernwaffe der USA mit Hilfe einer "multilateralen" NATO-Atomstreitmacht zu erlangen. Wer behauptet, es werde keine direkte Übergabe von Raketen- und nuklearen Waffen in den "nationalen Besitz" irgendeines der Teilnehmer der NATO-Atom- streitmacht erfolgen, umgeht faktisch das Wesen der Frage. Es besteht aber darin, daß auf einem solchen Wege den westdeutschen Revanchisten die Möglichkeit geboten wird, die für sie erforderlichen geheimen Angaben über die Kernwaffe und die Waffe selber aus USA-Quellen zu erhalten... Bestimmte Kreise in den USA suchen die Dinge so darzustellen, als seien die Pläne zur Schaffung der multilateralen Atomstreitmacht darauf zurückzuführen, daß die westeuropäischen Länder nachdrück- lich wünschen, Zutritt zur Kernwaffe zu erhalten. Von den 15 Mit- gliedstaaten der NATO haben sich jedoch nur sieben einverstanden erklärt, versuchsweise Personal für das "multilaterale" Experi- mentalschiff "Rickets" (früher "Biddle") zu stellen. Mithin zeigt es sich, daß in Wirklichkeit sich die Mehrheit der westeuropäi- schen Mitgliedsländer der NATO gegenüber derartigen Plänen entwe- der reserviert oder ablehnend verhält. Im Grunde genommen drängt nur Westdeutschland von Anfang an bis zum heutigen Tage in jeder Weise auf die Verwirklichung dieser Idee. Worin liegt nun die Erklärung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland bestrebt und bereit ist, ein Drittel aller Ausgaben für die Schaffung der multilateralen Atomstreitmacht zu bezahlen? Die ganze Sache ist die, daß die militaristischen Kreise in der Bundesrepublik Deutschland auf diese riesigen Aufwendungen einge- hen, um den Schlüssel zu den Kernwaffenarsenalen zu erkaufen. Je- denfalls denken, ja sie sprechen auch unverhohlen so, sogar wenn man in Washington und in anderen westlichen Hauptstädten etwas anderes erhofft. Die Geschichte kennt nicht wenige Beispiele dafür, wie die deut- schen militaristischen Kreise immer neue Zugeständnisse von den Westmächten erreichten. Fast jede zusätzliche Forderung wurde als die letzte hingestellt, aber es gab keinen Fall, wo sie tatsäch- lich die letzte geblieben wäre. Zugeständnisse an den abenteuer- lichen deutschen Militarismus haben seinen Appetit niemals ge- stillt. In dem Maße, in dem sich im Arsenal der Bundeswehr Waffen anhäufen, wird auch das Verhalten der Bundesrepublik Deutschland zu ihren Verpflichtungen, zu den internationalen Abkommen, sogar gegenüber den eigenen Verbündeten in den Militärblöcken jetzt im- mer ungenierter, und die Ansprüche steigen. Nein, wer darauf rechnet, daß sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Beteiligung an einer multilateralen NATO-Atomflotte zu- friedengeben und nicht noch mehr wollen wird, der macht sich Il- lusionen und befaßt sich faktisch mit der Täuschung der Völker. Schon heute wird in der Bundesrepublik Deutschland unverblümt er- klärt, daß die multilaterale NATO-Atomflotte von Westdeutschland nur als erste Etappe im Programm der Ausrüstung der Bundeswehr mit Raketen- und nuklearen Waffen betrachtet werden kann. Kaum hatten sich westdeutsche Offiziere und Matrosen an Bord des "multilateralen" Schiffes "Rickets" begeben, als man in Bonn für alle vernehmbar von der Notwendigkeit der Aufhebung des USA- Vetos, von Beschlußfassungen über den Einsatz der NATO-Atomflotte mit einfacher Stimmenmehrheit zu sprechen begann. Und was bedeu- tet der Einsatz einer mit strategischen Kernwaffen bestückten Flotte? Das ist Krieg. Deswegen also ist der westdeutsche Milita- rismus bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Das ist das Recht, das er sich durch die Beteiligung an der multilateralen NATO- Atomstreitmacht erkaufen will! Die westdeutschen Militaristen versuchen ihre Ziele durch Erpres- sung und Drohungen zu erreichen. Die multilaterale Atomstreit- macht sehen sie als ein geeignetes Mittel an, um ihre Verbündeten in die Abenteuer, die sie aushecken, hineinzuziehen, das militä- rische Potential der NATO für ihre eigenen Ziele zu benutzen. Die Bonner Revanchisten stellen bereits das neueste Modell des USA- Jagdbombers, "F-104", her. Die Betriebe der Bundesrepublik Deutschland produzieren bereits mehrere Arten von Raketenwaffen auf der Grundlage der von den USA erhaltenen Dokumentation. Und mit Hilfe der multilateralen Atomstreitmacht möchten die west- deutschen Militaristen Zutritt zu der neuesten Kerntechnik, zu den Geheimnissen der Kernwaffenerzeugung erlangen Bei dem jetzi- gen Stand der Wissenschaft und der Produktion würde es der Bun- desrepublik Deutschland keine große Mühe kosten, auch eigene Kernwaffen zu erzeugen. Dafür brauchten die westdeutschen Milita- risten nicht mal Versuche mit der Kernwaffe anzustellen - sie ist bereits auf amerikanischem Versuchsgelände restlos getestet. Faktisch hat die Bundesrepublik Deutschland die Vorbereitungen zur Aufkündigung der letzten Beschränkungen im militärischen Be- reich begonnen. Offizielle Bonner Persönlichkeiten erklären, daß die Verpflichtungen, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus der Kapitulation Hitlerdeutschlands im Jahre 1945 ergeben, ihre Geltung verloren hätten, und daß das Auftreten der friedlie- benden Staaten in Fragen, die mit den widerrechtlichen Versuchen der Bundeswehr zusammenhängen, Raketen- und nukleare Waffen zu erlangen, eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland darstelle. Die Einhaltung der Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland gemäß den internationalen Abkommen, die im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des Hitlerreiches abgeschlossen worden sind, - ist keineswegs eine innere Angelegenheit Westdeutschlands. Keinerlei Verträge, die von der Bundesrepublik Deutschland unter Verletzung oder Umgehung des Potsdamer Abkommens oder der anderen Nach- kriegsabkommen der Alliierten unterzeichnet wurden oder unter- zeichnet werden können, entheben die Westmächte oder die Bundes- republik Deutschland ihrer Verantwortlichkeit und ihrer Ver- pflichtungen und schmälern in keiner Weise die Rechte, welche die Staaten der Anti-Hitler-Koalition diesen Abkommen entsprechend besitzen. Die Regierung der Sowjetunion als der Großmacht, die die Haupt- last des Kampfes gegen Hitlerdeutschland trug, und dessen bedin- gungslose Kapitulation entgegennahm, hat auf ihre in internatio- nalen Abkommen niedergelegten Rechte und Pflichten nicht verzich- tet und beabsichtigt nicht, dies zu tun. Bis zum Abschluß eines deutschen Friedensvertrages wird der militärisches Status der Bundesrepublik Deutschland eben von den Nachkriegsabkommen der Alliierten bestimmt, die im Verlaufe des Krieges und nach dem Kriege getroffen worden sind... In den führenden Kreisen der UdSSR wird erklärt, daß die So- wjetunion auch weiterhin aufmerksam diese gefährlichen Pläne ver- folgen, erforderlichenfalls zusammen mit ihren Verbündeten die notwendigen Schlußfolgerungen ziehen und entsprechende Maßnahmen zum Schutz ihrer Sicherheit und der Sicherheit ihrer Freunde und Verbündeten treffen wird. zurück