Quelle: Blätter 1965 Heft 11 (November)
zurück Dokumente zum Zeitgeschehen THESEN EINER OPPOSITIONELLEN BERLINER SPD-GRUPPE ================================================ ZUM WAHLAUSGANG 1965 ==================== (Harry Ristock, Bezirksstadtrat; Alfred Gleitze, Landesvorsitzen- der der "Falken"; Prof. Werner Stein, Senator für Kunst und Wis- senschaft; Ella Kay, langjährige Jugendsenatorin; Pietschker; Wurche u.a.) Gemessen am Wahlziel der Wahl 1961 und auch der Wahl 1965 sind beide Wahlkämpfe für die Sozialdemokratie verloren gegangen. Das Ziel, wählerstärkste Partei zu werden oder als starke Partei zu- mindest an der Regierung beteiligt zu werden, ist nicht erreicht worden. Es gilt nunmehr zu untersuchen, ob mit dem eingeschlage- nen Weg seit der Rede Wehners von 1960 überhaupt ein Erfolg er- reicht worden ist oder auf welchem anderen Wege uns die jeweils 3-4 Prozent der Stimmen zugewachsen sind. Es gilt weiter zu un- tersuchen, ob auf diesem eingeschlagenen Wege überhaupt jemals eine Mehrheit zu erreichen ist und ob ferner bei der Fortsetzung dieses Kurses nicht jene entscheidenden Wählerschichten, die seit eh und je den Kern der sozialdemokratischen Stammwähler ausma- chen, zur Wahlenthaltung abrücken. Desgleichen ist die Frage auf- zuwerfen, wie, falls man den eingeschlagenen Weg verneint, auf einem anderen Wege eine Mehrheit in absehbarer Zeit zu erreichen wäre. Hierzu einige Thesen: I. Das Godesberger Programm --------------------------- Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, sei eines bereits am An- fang dieser Untersuchung festgestellt: Bei der Debatte über das Godesberger Programm hat ein Teil der Mitgliedschaft unserer Par- tei von seinem selbstverständlichen Recht Gebrauch gemacht, ge- wisse Aussagen - so vor allem im wirtschaftspolitischen Teil - kritisch zu betrachten, um eine schärfere Formulierung zu erwir- ken. Ungeachtet derartiger Meinungsverschiedenheiten ist das Go- desberger Programm aber inzwischen die gemeinsame Grundlage aller Mitglieder und Funktionäre der Partei geworden. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, daß das Godesberger Pro- gramm sowohl nach rechts wie nach links einen weiten Spielraum läßt, so daß auch der nichtparteigebundene Bürger, der die Demo- kratisierung und Umformung der heutigen Gesellschaft anstrebt, zu der Erkenntnis gelangen muß, daß er dieses Ziel nur gemeinsam mit der deutschen Sozialdemokratie erreichen kann. II. Widersprüche ---------------- Das Leitmotiv des Godesberger Programms war, die Leidenden und die Denkenden anzusprechen. Wenn man das übersetzt, ist die Frage nach der Verhaltensweise der Partei gegenüber der Arbeiterschaft - sprich Gewerkschaften - in den vergangenen Jahren zu stellen. Da sich aus diesem Bereich die Stammwähler rekrutieren, müßte hier eine weitestgehende Übereinstimmung vorgeherrscht haben. Es ist ferner die Frage zu stellen nach dem Wohlverhalten der Partei gegenüber a) den Wissenschaftlern und Künstlern, b) der studierenden Jugend und ihren politischen Verbänden, c) jenen Teilen der protestantischen Kirche, die, getrieben vom eigenen Gewissen, erstmals während der nationalsozialistischen Ära mit dem Obrigkeitsstaat brachen und heute als linkes Ferment der Gesellschaft wirksam sind und d) einem kleinen, aber sehr lebendigen progressiven Flügel der katholischen Kirche. Bei objektiver Beantwortung dieser Frage offenbart sich in er- schreckendem Maße die widersprüchliche Haltung der Partei. So muß es geradezu grotesk erscheinen, daß das Verhältnis der Partei zu den Gewerkschaften durch ihre Stellungnahme zu den lebenswichti- gen Fragen der Nation (Wirtschaftspolitik, Notstandsgesetzgebung, atomare Mitbeteiligung) auf das stärkste strapaziert worden ist. Dankenswerterweise haben sich, aus ihrer Gewissensnot getrieben, eine große Zahl der Wissenschaftler und Künstler vor dem Wahltag für die deutsche Sozialdemokratie ausgesprochen. Die Verantwort- lichen wissen, daß auch diejenigen, die unterschrieben haben, und viele andere weit links von der alternativ- und formlosen Aussage der letzten beiden Wahlkämpfe stehen. Die studierende Jugend, so- weit sie politisch für uns relevant ist, wurde und wird von einem Teil des Apparats als ein Störungsfaktor, als radikalistisch, als bereits dem Kommunismus nahestehend angesehen und entsprechend behandelt. Man wünscht sich den widerspruchslosen Kretin. Man vergißt dabei, daß Tradition der Partei und Geist des Godes- berger Programms auch in dieser Frage in vollem Widerspruch zur Praxis, die wir erlebt haben, stehen. Der Scheinradikalismus von Studenten und Jugendverbänden ist immer nur die andere Seite des Verhaltens unserer Partei. Auf eine administrative Behandlung gibt es in den totalitär beherrschten Teilen der Welt immer nur die Auflehnung und Empörung. Hierzulande in einer parlamentarisch regierten Gesellschaft erlauben wir uns den Luxus, diesen Teil unserer natürlichen Partner beiseite zu schieben. Unsere Verbin- dung zu Teilen der protestantischen Kirche, die in vielen Fragen ehrliche Partner der deutschen Sozialdemokratie sind, hat über die rein rhetorische Aussage hinaus, daß wir auch jene Kräfte er- schließen wollen, keine Substantiierung erfahren. III. Wahlkampf und Zugewinn --------------------------- Die Bemühungen des Wahlkampfes liefen 1961 und 1965 darauf hin- aus, in die Grenzbereiche von Wählern anderer Parteien und in die Nichtwähler einzubrechen. An diesen Wählerschichten, die man zu gewinnen hoffte, orientierte sich die alternativ- und profillose Wahlkampfaussage. Bezieht man die ungeheuren Anstrengungen ein, den Verlust an Gesicht der Partei, die Strapazierung der Nerven der Mitglieder und der Stammwähler der bedeutenden größten Orga- nisationen, so ist dieser Erfolg gleich Null. Der so sehr zu begrüßende Stimmengewinn setzt sich nach vorlie- genden exakten Untersuchungen und unter Einbeziehung der Ein- schätzung dieser Wahl im wesentlichen aus zwei Fakten zusammen: 1. Trotz der leider sehr niedrigen Wahlbeteiligung der Jungwähler haben die zur Wahl Gehenden in einem überaus hohen Maße die Sozi- aldemokratische Partei gewählt. 2. Hat der Prozeß der Urbanisierung zur Folge, daß ein erhebli- cher Teil von Menschen aus den alten restaurativen und reaktio- nären gesellschaftlichen Bindungen herausgelöst und neuen sozia- len Bezügen unterworfen wird. Auch hieraus entsteht ein natürli- cher Zugewinn. IV. Zugewinn in den "Ballungszentren" ------------------------------------- Die Wahlkampfführung erkannte gerade noch rechtzeitig, daß bei Fortführung des Stils der Wahl von 1961 in den großen Zentren der Arbeiterschaft an Rhein und Ruhr eine große Abwanderung von tra- ditionellen Wählerschichten der Partei hin zu den Nichtwählern erfolgen würde. Und hier begann dann im Widerspruch zu der von Wehner und Erler und anderen propagierten und in Baden-Württem- berg z.B. bis zum Exzeß geübten Wahlmethode ein neuer Weg für die Auseinandersetzung in Nordrhein-Westfalen. Hier haben Willy Brandt, Heinz Kühn, der Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, und vor allem die Parteiorganisation mit klaren, zum Teil wirklich in die Zukunft weisenden Thesen und Reden eine Mobilisierung jener Schichten erzielt, die unser natürliches Reservoir darstellen. Nach einer unermüdlichen Kraftanstrengung in Verbindung mit einer wirklich alternativen Aussage ergab sich hier der größte Sieg. V. Konkordat ------------ Mit dem Abschluß des Konkordats in Niedersachsen, so wurde der staunenden Parteimitgliedschaft klargelegt, würde sich eine völ- lig neue Chance bei der Gewinnung neuer Wähler ergeben. Ziel und Inhalt bewährter sozialdemokratischer Schul- und Kirchenpolitik wurden damit über den Haufen geworfen. Übrig blieb ein Scherben- haufen: Verärgerung landauf und landab in der Partei sowie auch bei jenen Schichten der Bevölkerung, die mit uns sympathisieren. Selbst in Bayern, wo diese Politik nach offizieller Aussage freu- dige Unterstützung hätte finden müssen, stieß sie auf einen er- bitterten Widerstand. VI. Oder-Neiße- und Ostpolitik ------------------------------ Einer der Tiefpunkte des Wahlkampfes und beschämend für unsere Partei ist jene Erklärung von Herbert Wehner, "daß es ihn kalt ans Herz greife", als er Erhard beschimpfte, weil dieser angeb- lich zu lau auf die Rede Cyrankiewicz's und das Schweigen de Gaulles zu dieser Rede reagierte. Hier wurde die Aussage gefährlich, bizarr und lächerlich zugleich, denn das wissen nun einmal Sozialdemokraten seit ihrer Begründung, und dieses Grundgesetz ist auch heute - wie noch zu beweisen sein wird - nicht aufgehoben: Nationalismus säen, an die dumpfen, unausgegorenen, mystischen Instinkte appellieren, das hieß und heißt: Säen, wo andere ernten werden. Hierbei ist fest- zustellen, daß, falls die Entwicklung auf dem Sektor unserer Be- ziehung zu den osteuropäischen Staaten keine Wandlung erfährt - auf lange Zeit gesehen - nicht einmal die CDU, sondern die NPD diese Politik beerben wird. Für sogenannte Realpolitiker gibt es oftmals eine große Entschuldigung, nämlich jene, daß der Erfolg dem Siegreichen recht gibt. Nicht einmal diese traurige Entschul- digung kann gelten für jene Wahlkreise, in denen die SPD schein- bar Einbrüche in sogenannte nationale Wählerschichten erzielt hat. In den Wahlkreisen 7, 8, 10, 23, 24, 25, 28, 29, 30, 31 und 40, in denen die Gesamtdeutsche Partei (ein Zusammenschluß von Deutscher Partei und der Flüchtlingspartei BHE) noch im Jahre 1961 4,5-16 Prozent der Stimmen gewann, beträgt z.B. der Zuwachs an CDU-Stimmen nahezu den gleichen Prozentsatz, während unser höchster Zugewinn in einem dieser Wahlkreise 2,4 Prozent beträgt und im übrigen weit darunter bleibt (bis -0,2 Prozent). Zwischenthesen -------------- Eine Politik unserer Partei, die nicht zielstrebig und klar, sowohl in ihrem Programm wie in den Tagesaussagen, darauf und daran ausgerichtet ist, den zu gewinnenden Massen die Wahrheit zu sagen, sondern das Gegenteil tut, mag zwar vorübergehend, aber auch das wird (siehe oben) bestritten, Scheinsiege erringen (und einige meinen heute schon ironisch, mathematisch läßt sich 1981 ein Sieg ausrechnen), aber Scheinsiege, die von jeher nur auf dem Schwemmsand jener Wähler basieren, die, unpolitisch und gefähr- lich, ein Spielball der Demagogen sein werden. Hier können und wollen wir nicht mithalten. Genau das Gegenteil ist zu tun. Es ist das oberste Gebot für alle Sozialdemokraten, die Stimmen- zahl nach Kräften zu erhöhen und in einer Gesellschaft die poli- tische Macht zu erringen, die heute unter Führung der CDU in ge- fährlicher Weise von jenen Kräften weiter beherrscht wird, die Deutschland zwar zum Wohlstand, aber in den wesentlichen Fragen der Nation in die Sackgasse geführt haben. Es wird uns nur in jenem Maße gelingen, den Strom der uns vertrauenden Wähler zu verbreitern, in dem wir mit unserer Politik langfristig um die Entideologisierung der von uns neuzugewinnenden Schichten kämp- fen. Vor uns liegt ein langer, steiniger Weg. Niemand kann uns ersparen, diesen Weg zu beschreiten. Kriechend und vor jedem Ge- spenst der bürgerlichen Ideologie katzbuckelnd, werden wir unser Ziel nicht erreichen, sondern nur, wenn wir aufrecht und in Würde unseren Weg gehen. Auf die Dauer verspricht die Wahrheit immer noch den größten Erfolg. Zusammenfassung und Schlußthese ------------------------------- Diese Kritik ist weder aus dem Rechthaben heraus geboren (selbst richtige Voraussagen der Wahlverhältnisse schmeckten in der Wahl- nacht bitter und bereiteten keine Befriedigung) noch aus dem Wunsch, die Sozialdemokratie wieder zurückzuführen zu jener Form der Partei, die sich oft radikal oder marxistisch gab, doch in ihrem Kern längst das war, was Godesberg als Schlußpunkt aus- drückte: Eine demokratische Volkspartei, eben jene Sozialdemokra- tie, die angetreten ist, in einem unablässigen Prozeß des Bemü- hens um die Gewinnung weiterer Menschen und Schichten eines Tages zur Mehrheit zu werden. Volkspartei, d.h. also: Repräsentation des diese Partei wählenden Volkes in der Führung, in der Politik und in den tagespolitischen Aussagen. Volkspartei heißt aber nicht Fernsehparteitage und -kongresse, Umschmeicheln der Massen, heißt nicht Anweisung und Unterordnung, heißt nicht, wenn Springer-Presse u.a. einen zwar noch gedämpften Nationalismus aufbauen, mitzubauen, heißt aber auch nicht Verla- gerung der Entscheidung über den politischen Weg der Partei in die Geheimkabinette des Apparates. Es ist ein Glück, daß jener Mann, der als einziger im Spitzenteam der heutigen Partei den Mut hatte, neue Alternativ-Wege zu gehen, daß dieser Mann Willy Brandt als Regierender Bürgermeister jenen Spielraum behält, der notwendig sein wird, aus der Politik der kleinen Schritte Schritte hin zur Lösung der vor uns liegenden Fragen zu gehen. Dabei ist es wichtig, daß die Funktion des Par- teivorsitzenden in der Hand des Regierenden Bürgermeisters bleibt und daß er, nunmehr unbelastet von der schweren Bürde des Kanz- lerkandidaten, diese Zügel fest in die Hand nimmt und wirklich Parteivorsitzender wird, eine Lösung, bei der die Stellvertreter eben nur wirkliche Stellvertreter sein sollen. Die Genossen aus dem Südwestraum, die heute in quantitativ so hervorragender Weise Parteivorstand und Fraktionsvorstand bela- gern, sollten in ihre "Heimat" zurückgesandt werden, um hier erst einmal eine Bewährungsprobe abzulegen. Die vor uns liegenden vier Jahre erfordern eine zielbewußte, kluge, Alternativen aufzeigende, aber auch progressive Kräfte der CDU bindende Opposition im deutschen Bundestag. Die Parteiorganisation muß daran gehen, nach einer eingehenden Analyse der Fehler und der Situation zusammen mit ihren Mitglie- dern, aber auch mit den großen Verbänden außerhalb der Partei, die uns nahestehen, zielstrebig eine Politik einzuleiten, die über eine Persilwerbung hinaus Menschen und Schichten neu er- schließt, ein dornenvoller Weg, nach dem möglicherweise 1969 kein größererer Zugewinn stehen kann als 3-4 Prozent, aber (so könnten Spötter formulieren, doch das wäre bitterer Ernst) neben den 3 Prozent hätten wir auch noch das gute Gewissen. Aber nicht nur dieses gute Gewissen, sondern auch die Voraussetzung, nach und nach neue Schichten zu Stammwählern zu gewinnen, läßt dann selbst Wahlsiege noch in späteren Legislaturperioden erträglich erschei- nen. Der Ausbau der Volkspartei unter Einbeziehung der Gewerkschaften, der Wissenschaftler, der studierenden Jugend, der progressiven Kräfte (die sehr unterschiedlich sein werden), der Kirchen, der Jugend und anderer uns nahestehender Kräfte im Spiegelbild des Volkes wird die Aufgabe sein. Aus der Diskussion einer solchen lebendigen demokratischen Partei werden dann jene personellen Voraussetzungen geschaffen werden, die den Kampf um die Erringung weiterer Wählerschichten ermöglichen. In den Jahren 1965-1969 wird das deutsche Volk vor schwere Entscheidungen gestellt. Wir können und müssen mithelfen, daß diese Entscheidungen mit uns und nicht über uns hinweg getroffen werden. zurück